Vor langer Zeit, in einem alten asiatischen Königreich, das von smaragdgrünen Bergen und flüsternden Bambuswäldern umgeben war, lebte ein Junge namens Hiro. Hiro war kein Prinz von Geburt, doch alle nannten ihn liebevoll „den Bambusprinzen“, weil er tief im Wald in einer kleinen Hütte lebte, die aus starken Bambusstäben gebaut war. Seine Eltern waren früh gestorben, und Großmutter Aiko – weise, sanft und voller Geschichten – hatte ihn wie ihren eigenen Sohn großgezogen.
Hiro verbrachte seine Tage damit, den Dorfbewohnern zu helfen, Kräuter zu sammeln und sich um die kleinen Tiere des Waldes zu kümmern. Obwohl er nur wenig Besitz hatte, war sein Herz reich an Güte. Er glaubte fest daran, dass jede kleine gute Tat eines Tages als Echo zurückkehrt.
Eines Sommermorgens wurde der stille Wald von einem lauten Trompetensignal erschüttert. Ein königlicher Bote erreichte den Dorfplatz – außer Atem und blass.
„Die Tochter des Kaisers, Prinzessin Mei, ist schwer erkrankt!“ rief er. „Kein Heiler kann sie retten. Der Kaiser sucht jemanden, der mutig genug ist, den Berg der Echos zu erklimmen und die Perle des Morgenlichts zu holen, die jede Krankheit heilen soll.“
Stille senkte sich über das Dorf. Der Berg der Echos war gefürchtet. Man sagte, er sei lebendig und höre jedes gesprochene Wort – und verändere die Wege für jeden Reisenden.
Der Dorfälteste trat vor. „Diese Reise ist nichts für gewöhnliche Menschen. Nur jemand mit einem reinen Herzen kann den Gipfel erreichen.“
Viele Dorfbewohner schüttelten den Kopf und gingen davon. Doch Hiro trat vor.
„Ich werde gehen“, sagte er leise.
Die Menschen staunten. Hiro war mutig, aber jung und arm. Was konnte er schaffen, was große Krieger nicht konnten?
Großmutter Aiko sah ihn besorgt an. „Der Berg hört zu, mein Kind. Ein unfreundliches Wort, ein wütender Gedanke – und er wendet sich gegen dich.“
Hiro verbeugte sich. „Dann werde ich nur Güte mitnehmen.“
Nur mit einem Bambusstock, einem kleinen Beutel Reis und seinem Mut machte sich Hiro auf den Weg.
Der Pfad der Flüstern
Der Wald wurde dichter, je näher er dem Berg kam. Die Vögel saßen still auf den Ästen. Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten.
Bald erreichte Hiro einen breiten Steinbogen – den Eingang zum Berg. Darüber waren alte Zeichen eingraviert:
„Deine Worte formen deinen Weg.“
Hiro trat ein.
Zuerst war der Aufstieg leicht. Der Boden schimmerte und spiegelte seine Schritte wider. Doch nach einer Weile wurde er müde und durstig. Eine kleine Stimme hallte um ihn herum:
„Kehre um… kehre um…“
Hiro blieb kurz stehen, schüttelte dann aber den Kopf. „Ich muss Prinzessin Mei helfen“, flüsterte er.
Sofort hallte der Berg seine Worte zurück – diesmal in freundlichem Ton:
„Prinzessin Mei helfen! Mei helfen!“
Der Weg wurde wieder hell. Hiro lächelte. Der Berg reagierte, wie der Älteste es gesagt hatte.
Das Tal der zornigen Schatten
Gegen Mittag gelangte Hiro in ein dunkles Tal. Scharfe Felsen ragten wie Zähne aus dem Boden. An den Wänden tanzten schwarze Schatten. Eine tiefe Stimme grummelte:
„Du gehörst nicht hierher… Geh nach Hause…“
Hiro spürte, wie Angst in ihm aufstieg. Er hielt seinen Bambusstock fest und flüsterte: „Ich habe keine Angst.“
Doch der Berg verwandelte seine Worte:
„Angst! Angst!“
Die Schatten wurden größer und näher.
Hiro schloss die Augen, atmete tief ein und erinnerte sich an Großmutter Aikos Lehre:
Ein sanftes Herz kann selbst den stärksten Sturm brechen.
Er öffnete die Augen und sprach ruhig:
„Ich will nichts Böses. Ich bin hier, um ein Leben zu retten.“
Das Echo kam weich zurück:
„Nichts Böses… Leben retten…“
Die Schatten lösten sich auf wie Nebel.
Die Brücke der Spiegelungen
Gegen Abend erreichte Hiro eine glasklare Brücke über einer tiefen Schlucht. Sie war so durchsichtig, dass es aussah, als würde er in den Himmel treten.
Mitten auf der Brücke hörte er einen Schrei:
„Hilfe! Bitte hilf mir!“
Hiro blickte hinunter. Ein kleines weißes Äffchen klammerte sich verzweifelt an einen Felsvorsprung.
Hiro kniete sich an den Rand der Brücke. „Keine Sorge. Ich lasse dich nicht zurück.“
Doch der Abgrund war tief, der Wind wild, und die Brücke hatte kein Geländer. Trotzdem band Hiro seinen Bambusstock an seinen Gürtel, legte sich flach auf den Bauch und streckte sich weit hinunter.
Nach vielen Versuchen gelang es ihm, das zitternde Äffchen nach oben zu ziehen. Das Tier schmiegte sich dankbar an ihn.
Da begann es zu leuchten. Das Fell wurde silbern, die Augen funkelten wie Sterne.
„Du hast Mut und Güte gezeigt“, sagte das Äffchen, das nun ein kleiner Waldgeist war. „Ich werde dich zum Gipfel führen.“
Der Gipfel und die Perle des Morgenlichts
Mit dem Geist an seiner Seite erreichte Hiro den Gipfel genau im Moment des Sonnenaufgangs.
In der Mitte des Plateaus ruhte die Perle des Morgenlichts, strahlend wie die erste Sonne des Tages.
Hiro trat ehrfürchtig vor und flüsterte:
„Danke, dass du mir erlaubst, der Prinzessin zu helfen.“
Die Perle schwebte in die Luft und legte sich warm und lebendig in seine Hände.
Der Berg bebte – nicht vor Zorn, sondern vor Zustimmung. Goldenes Licht erhellte den Gipfel.
„Du hast jede Prüfung bestanden“, sagte der Geist. „Deine Güte hat deinen Weg geformt. Dein Mut hat dich geführt.“
Die Rückkehr ins Königreich
Als Hiro zurückkehrte, jubelten die Dorfbewohner. Der Kaiser selbst kam ihm entgegen.
Hiro überreichte die Perle. Wenige Augenblicke später kehrte Farbe in Prinzessin Meis Gesicht zurück, und ihre Kraft erwachte.
Der Kaiser bot Hiro Gold, Juwelen und sogar einen Platz am Hof an.
Doch Hiro lächelte bescheiden.
„Ich tat nur, was richtig war. Ich brauche keinen Lohn.“
Gerührt rief der Kaiser:
„Von heute an soll das ganze Reich vom Bambusprinzen lernen. Gute Taten kehren als gute Echos zurück.“
🌟 Moral der Geschichte
Deine Worte und Taten formen deinen Lebensweg.
Güte kehrt immer zurück – stärker, heller und kraftvoller als zuvor.
